- Nachname:
- West
- Vorname:
- Ellen
- Epoche:
- 19. Jahrhundert
20. Jahrhundert - Arbeitsgebiet:
- Sonstige
- Geburtsort:
- (USA)
- † 04.04.1924
West, Ellen
Patientin von Ludwig Binswanger.
Ellen West (1897-1921) ist das Pseudonym einer Patientin, die durch eine Fallanalyse ihres behandelnden Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger bekannt wurde. Aufgrund einer schweren Essstörung mit Depressionen begann sie um 1910 mit Behandlungen, die 1921 in Binswangers Kreuzlinger Sanatorium fortgesetzt wurden. Kurz nach der Entlassung Ende März 1921 starb sie durch Suizid.
Lebensgeschichte
Ellen West wuchs vermutlich in den USA in einer wohlhabenden, gebildeten jüdischen Familie mit zwei Brüdern auf und zog im Kindesalter nach Europa. Ihre genaue Herkunft ist aufgrund des Datenschutzes ihrer Patientenakten unbekannt. Laut Binswanger (1944) habe sie bis zu einem Alter von 16 Jahren – als sie sich erstmals verliebte – eher knabenhaftes Verhalten gezeigt und männliche Spiele und Kleidung bevorzugt, obwohl sie eine Mädchenschule besuchte. Als junge Erwachsene habe sie Tagebuch geschrieben und sich mit Lyrik und eigenen Gedichten beschäftigt. Während sie in ihrer Jugend ein lebensfroher, Mensch gewesen zu sein schien, habe sie ab der dritten Lebensdekade zunehmend unter depressiven Verstimmungen gelitten. Zu dieser Zeit habe sie vergebens versucht, eine Lebensaufgabe zu finden und – literarisch interessiert – verschiedene Studienfächer begonnen, von denen sie keines zu Ende führte (vgl. Akavia 2008; Hirschmüller 2003; Studer 1992).
Als sie mit 21 Jahren aus einem Urlaub in Sizilien zurückkehrte und Freundinnen sich über ihre Gewichtszunahme belustigten, habe sie, wie Binswanger berichtete, massive Ängste vor dem „Dickwerden“ entwickelt. Sie habe begonnen, große Mengen Brech- und Abführmittel samt Schilddrüsenmedikamenten zu nehmen, aber zugleich Attacken von Heißhunger erlebt samt dem „Zwang, immer ans Essen denken zu müssen”, wie Binswanger (1944, S. 269) formulierte. Nachdem sie eine Liebesbeziehung zu einem Mitstudenten um 1926 aufgab, weil ihre Eltern gegen die Bindung waren (sie opponierten auch gegen weitere Liebesbeziehungen ihrer Tochter), heiratete sie mit Zustimmung ihrer Eltern 1928 ihren Vetter Karl West, einen promovierten Juristen. Nach einer Fehlgeburt geriet ihr Essverhalten zunehmend außer Kontrolle. Im Dezember 1919 wurde sie angesichts eines deutlichen Gewichtsverlusts Emil Kraepelin vorgestellt, der nach Binswanger (1944, S. 270) eine „Melancholie“ diagnostizierte. Im Februar 1920 begann sie eine Psychoanalyse bei Viktor Emil von Gebsattel, der von einer „Hysterie“ ausging, aber beendete sie bereits im August vorzeitig. Eine zweite, im Oktober begonnene analytische Behandlung bei Hans von Hattingberg, der eine schwere, „obsessive Neurose“ mit „manisch-depressiven“ Schwankungen sah, brach sie ebenfalls ab (vgl. Hirschmüller 2007; Keifenheim 2011, S. 57-63). Zwei Suizidversuche scheiterten. Ein hinzugezogener Arzt befand auf „Psychopathie“. Binswanger (1944, S. 271) diagnostizierte eine „recht schwere cyclothyme Depression mit ... starken Angstgefühlen und zeitweisen Suizidideen”.
Behandlung in Bellevue
Ab dem 12. November 1920 wurde Ellen West in einer internistischen Klinik behandelt. Die Ärzte konnten sich über das weitere Vorgehen nicht einigen. Ihr Hausarzt, ein Internist, verbot die weitere Analyse bei von Hattingberg und überwies sie nach Kreuzlingen. Im Bellevue wurde sie mit einem Aufnahme-Körpergewicht von 53 kg ab dem 14. Januar 1921 zweieinhalb Monate weitgehend erfolglos behandelt. Vor ihrer Entlassung am 30. März beriet Binswanger (1944, S. 276) sich am 24. März mit Eugen Bleuler und Alfred Hoche. Während Hoche, der kurz zuvor mit Kurt Binding die Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens publiziert hatte, eine „psychasthenische“ Verfassung annahm, einigten Bleuler und Binswanger sich auf das „unzweifelhafte“ „Vorliegen einer Schizophrenie” („Schizophrenia simplex“). Sie sahen keine Möglichketen der Behandlung mehr und prognostizierten bei Entlassung ihren Suizid. Der Ehemann, den Binswanger öfters zum Cello-Spielen eingeladen hatte, wurde von ihm vor die Alternative Entlassung oder geschlossene Unterbringung gestellt und nahm seine Frau trotz Suizidgefahr am 30. März nach Hause. Nach verschiedenen Vorbereitungen nahm sie am Abend des 3. April in Anwesenheit ihres Mannes eine tödliche Dosis Luminal mit Morphium ein und starb am Morgen des 4. April 1921. Binswanger, Bleuler, Hoche und von Hattingberg kondolierten.
Alfred Hoche (1934, S. 242) berichtete in seiner Autobiographie über das Konsilium mit Binswanger und Bleuler: „In einem ausländischem Sanatorium wurde eine junge Frau behandelt, hochbegabt, feinfühlend, erfüllt von geistigen Interessen jeder Art, aber dem Schicksal ausgeliefert, in kurzen Abständen immer wieder an schweren Depressionen mit Angstzuständen zu erkranken; sie selbst und ihr Mann, der mit ihr in innigster Seelengemeinschaft lebte, wurden sich darüber einig, daß es besser sei, dem gequälten Dasein der Frau ein Ziel zu setzen. Die Beratung der zugezogenen Ärzte galt der Frage, ob das noch ein lebenswertes Leben sei, d. h. ob in absehbarer Zeit eine Änderung in der Krankheitskurve zu erwarten sei; wir mußten die Frage verneinen. Die Frau, die sich gerade in einem leidlich gesunden Intervall befand, reiste mit dem Manne noch in dem Genusse ungetrübter Tage; dann nahm sie das Gift, das er ihr verschafft hatte, und schlief friedlich ein; seine Beihilfe war nicht strafbar, da die Selbsttötung nicht unter Strafandrohung steht."
Daseinsanalytische Deutung
Dreiundzwanzig Jahre nach Ellen Wests Tod publizierte Binswanger (1944) seinen Bericht Der Fall Ellen West, eine anthropologisch-klinische Studie. Seine Daseinsanalyse sei grundsätzlich „eine ontisch-anthropologische, an faktischem menschlichem Dasein durchgeführte phänomenologische Hermeneutik“ (1944a, S. 70). Er wolle nicht beurteilen, was psychisch gestörte Personen von Gesunden unterscheide, sondern freilegen, in was für einer besonderen Welt diese leben, was für einen „Weltentwurf“ sie haben.
Ausgehend von der frühen Kindheit, dem infantilen Trinkverhalten und der auffälligen Familienanamnese versuchte Binswanger, den schrittweisen Aufbau einer zunehmend verfestigten Grenze und Opposition zwischen Ellen Wests Eigenwelt und ihrer Umwelt herauszuarbeiten. In der Pubertät habe sie einen „ernsthaften Versuch einer vertieften Selbstauslegung“ gemacht (1944a, S. 74), durchgesetzt habe sich aber eine wunschhafte, ideelle, „ätherische“ Gedankenwelt. Doch in den folgenden Jahren habe West sich immer häufiger in einer „Gruft“-Welt der Schwere, des Schattens und der Ausweglosigkeit erlebt. Ihre Gegenwart habe sie nicht auf dem Boden des von der Welt der „Gruft“ überschatteten Vergangenen konstituieren können. Vielmehr habe West ihre Zukunft statt auf dem Realen auf der „ätherischen“ Welt gegründet. Binswanger (1944a, S. 82) wertete die „Angst vor dem Dickwerden“ als Beginn des eigentlichen Krankheitsprozesses „im psychiatrischen Sinne“. Darin liege jedoch kein „Anfang, sondern bereits das ,Ende’ einer Einkreisung der gesamten Existenz, die definitive „Festlegung auf den starren existenziellen Gegensatz von hell und dunkel, Blühen und Welken, dünn = geistig und dick = ungeistig”. Durch dieses Leben in zwei Welten und den Druck der Symptomatik sei West in eine existenzielle Enge geraten, in der sie den Tod als einzig möglichen Weg erlebt habe. Der Arzt deutete ihre Selbsttötung als einen Bilanzsuizid, als „notwendige Erfüllung des Lebenssinnes dieses Daseins” (1944a, S. 97).
Kontroversen und Revisionen
Binswangers Darstellung und seine Suizidprognose sind kontrovers diskutiert und teils revidiert worden, etwa die Rolle der Angehörigen und des Partners von Ellen West (Lester 1971), die daseinsanalytische Tendenz zur Überidentifikation mit den Patienten (Holzhey-Kunz 2003), die Entlassung aus Bellevue und die Schizophrenie-Diagnose sowie Binswangers unvollständige, Verantwortung abwehrende Falldarstellung. Schon Carl Rogers (1961, S. 164 f.) wies auf Ellen Wests fundamentale Einsamkeit und ihren Status als Objekt hilfloser Therapeuten hin. Hoches (1934, S. 242) autobiographische Äußerungen, aber auch erst spät aufgefundene Dokumente aus dem Bellevue-Archiv in Tübingen und von Angehörigen (Akavia 2008; Akavia & Hirschmüller 2007; Hirschmüller 2003) legen die Assistenz von Wests Ehemann bei ihrem Suizid nahe.
Ellen West hat zahlreiche Tagebuchaufzeichnungen, Gedichte und Texte verfasst, darunter ein autobiographisches Stück vom November 1920 mit dem Titel Geschichte einer Neurose (Akavia & Hirschmüller 2007). Der Familientherapeut Salvador Minuchin (1984) hat ihre Geschichte in einem szenischen Stück verarbeitet.
Literatur
Akavia, N. (2008): Writing „The case of Ellen West”: Clinical knowledge and historical representation. In: Science in Context 21, (1), S. 119-144.
Akavia, N., A. Hirschmüller (2007): Ellen West. Gedichte, Prosatexte, Tagebücher, Krankengeschichte. Heidelberg: Asanger.
Binswanger, L. (1942): Grundformen und Erkenntnis des menschlichen Daseins. Zürich: Niehans.
Binswanger, L. (1944): Der Fall Ellen West. Bericht. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 53, S. 255-277.
Binswanger, L. (1944a): Der Fall Ellen West. Daseinsanalyse. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 54, S. 69-117.
Binswanger, L. (1944b): Der Fall Ellen West. Daseinsanalyse und Psychoanalyse. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 54, S. 330-360.
Binswanger, L. (1945): Der Fall Ellen West. Weitere Beobachtungen über Freßgier. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 55, S. 16-40.
Binswanger, L. (1945a): Der Fall Ellen West. Eine anthropologisch-klinische Studie. Zürich: Orell Füssli.
Binswanger, L. (1946): Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie. In: Schweizer Archiv für Psychiatrie und Neurologie 57, (1), S. 209-235.
Chernin, K. (1981): The Obession. Reflections on the Tyranny of Slenderness. New York: Harper & Row.
Furt, L. R. (1999): The Elusive Patient and her Ventriloquist Therapist: Ludwig Binswanger’s “The Case of Ellen West”. In: L.R. Furst: Just Talk. Narratives of Psychotherapy. Kentucky: University of Kentucky Press, S. 193-209.
Hirschmüller, A. (2003, Hg.): Ellen West: Eine Patientin Ludwig Binswangers zwischen Kreativität und destruktivem Leiden. Bd. 1. Neue Forschungsergebnisse. Heidelberg: Asanger.
Hirschmüller, A. (2003a): Elen West: Drei Therapien und ihr Versagen. In: A. Hirschmüller (Hg.): Ellen West – Eine Patientin Ludwig Binswangers Zwischen Kreativität und destruktivem Leiden. Heidelberg: Asanger, S. 13-78.
Hoche, A., K. Binding (1920): Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens: Ihr Maß und ihre Form. Leipzig: Meiner.
Hoche, A. (1934): Jahresringe. Innenansicht eines Menschenlebens. München: Lehmann.
Holzhey-Kunz, A. (2007): Ellen West. Binswangers daseinsanalytische Deutung in daseinsanalytischer Kritik. In: N. Akavia, A. Hirschmüller: Ellen West. Gedichte, Prosatexte, Tagebücher, Krankengeschichte. Heidelberg: Asanger, S. 95-109.
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Lester, D. (1971): Ellen West's suicide as a case of psychic homicide. In: Psychoanalytic Review 58, (2), S. 251-263.
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Maltsberger, J. T. (1996): The case of Ellen West revisited: A permitted suicide. In: Suicide and Life-Threatening Behavior 26, (1), S. 86-97.
Rogers, C. R. (1961): Ellen West – and Loneliness. In: C. R. Rogers: The Carl Rogers Reader. Hg. von H. Kirschenbaum, V. L. Henderson. New York: Houghton Mifflin 1989, S. 157-168.
Studer, L. (1992): Ellen West (ca. 1890 - ca. 1924): „Das Leben lastet wie eine Wolke auf mir“. In: S. Duda, F. Pusch (Hg.): WahnsinnsFrauen, Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 226-254.
Julian Schwarz, Burkhart Brückner
Zitierweise
Julian Schwarz, Burkhart Brückner (2015):
West, Ellen.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
www.biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/211-west-ellen
(Stand vom:08.10.2024)