- Nachname:
- Fanon
- Vorname:
- Frantz Omar
- Epoche:
- 20. Jahrhundert
- Arbeitsgebiet:
- Psychiatrie
Sozialpsychiatrie
Politik - Geburtsort:
- Fort-de-France
- * 20.07.1925
- † 06.12.1961
Fanon, Frantz Omar
Französischer Psychiater, Autor und Politiker
Frantz Omar Fanon (1925-1961) war als Arzt ein Vordenker der Entkolonialisierung. Er setzte sich zum Ziel, „Afrika in Bewegung zu bringen, mitzuarbeiten an dessen Reorganisation unter revolutionären Prinzipien.“ (Cherki 2006, S. 241). Sein Leben spielte sich auf drei Kontinenten ab und wurde insbesondere durch den Algerienkrieg geprägt (1954-1962). Ab 1957 unterstützte Fanon die 1954 in Algerien gegründete FLN (Front de Libération Nationale; dtsch. Nationale Befreiungsfront).
Lebensweg
Frantz Fanon wurde im Juli 1925 auf der französischen Karibikinsel Martinique in der Hauptstadt Fort-de-France als fünftes von sechs Geschwistern geboren. Sein Vater Félix Casimir Fanon (1891-1947) war Zollbeamter, seine Mutter Éléonore Médélice Fanon (1891-1981) eine Mulattin mit Elsässer Wurzeln. Sie betrieb einen Laden für Haushalts- und Tuchwaren (Macey 2012, S. 48) und übernahm die Erziehung der Kinder. Die Familie mit Doppeleinkommen stieg zur wohlhabenden Mittelklassefamilie mit Bediensteten auf. Die Erfahrung des Großfamilienlebens floss in Fanons späteres Konzept der „therapeutischen Neo-Gesellschaft“ ein. Eine Situation prägte Fanon wesentlich: Auf einem Schulausflug zum Monument des Abolitionisten und französischen Vertreters für Martinique in der Nationalversammlung Victor Schoelcher (1804-1893) im Jahre 1935 fragte Fanon sich, was gerade dieser getan habe, um allein als der Befreier von der Sklaverei gefeiert zu werden. Er begriff die kolonialistische Verzerrung in der Verehrung Schoelchers, denn de facto führten bis Mai 1848 mehrere Sklavenaufstände zur Befreiung (Macey 2012, S. 10 f.). Fanons Kindheit war glücklich, bis er 1939 erste rassistische Diskriminierungen durch französische Soldaten erfuhr (ebd., S. 62). Seine Mutter versteckte ihre Söhne in Mädchenkleidern, um sie vor der Zwangsrekrutierung zu schützen. Fanon kämpfte dennoch 1944/45 freiwillig für Frankreich in Nordafrika und Frankreich.
1946 begann er mit 22 Jahren in Lyon Medizin zu studieren. Er verliebte sich in die Literaturstudentin Marie Josèphe Dublée und heiratete sie 1952. In der Klinik von Saint-Alban lernte er bei dem Psychiater François Tosquelles (1912-1994) soziotherapeutische Ansätze kennen. Im Juni 1953 bestand Fanon die staatliche Prüfung und wurde im November desselben Jahres in Blida-Joinville im Norden Algeriens als fünfter Psychiater im L´Hôpital psychiatrique de Blida eingestellt. Sein Sohn Olivier wurde 1955 geboren. Fanon nahm zweimal am Kongress Schwarzer Schriftsteller und Künstler teil (Paris 1956 und Rom 1959) und ging 1957 nach Tunis, während seine Frau für das tunesische Radio arbeitete. Ab 1957 profilierte er sich als politischer Aktivist und Sprecher der FLN und fungierte ab April 1960 als „Botschafter für Afrika“. Obwohl ihm im Dezember 1960 eine akute myeloische Leukämie diagnostiziert wurde, nahm Fanon noch im März 1961 nach einem ersten Behandlungsversuch in Moskau an der dritten „Konferenz über Afrikanischen Kolonialismus“ teil. Frantz Fanon starb mit 36 Jahren im Beisein seiner Familie im Dezember 1961 in Maryland, USA. Seine Frau Josie starb 1989 durch Suizid.
Persönlichkeit
Fanons Persönlichkeit wird sowohl in Martinique als auch in Frankreich widersprüchlich wahrgenommen (Macey 2012, S. XXII). Schon als Junge galt Fanon als kontaktfreudig, dominant, selbstsicher und effizient. Er spielte Fußball, las viel und wurde als neugierig, liebenswert, großzügig und sorgfältig, aber auch umständlich und impulsiv beschrieben. Als Arzt erfüllte er ein immenses Tagespensum. In Blida sei er zeitweise ungeduldig bis aggressiv aufgetreten (ebd., S. 73). Fanons vielfältige Interessen reichten von Literatur über Philosophie, Phänomenologie, Marxismus bis zu Existentialismus, Ethnologie und Psychoanalyse. Für ihn war ein Psychiater zuallererst Therapeut und er trat jedem gegenüber entschieden auf, der psychisch gestörte Menschen nicht als Subjekte behandelte (ebd., S. 226). Als guter Redner konnte er Französisch frei mit Creole, Kabyle, Arabisch und Wolof kombinieren (Cherki 2006, S. 219). Allerdings sprach er kaum über sich selbst und seine Vergangenheit. Eine besonders schmerzliche Situation erinnerte er folgendermaßen: Ein Kind habe mit dem Finger auf ihn gewiesen und gerufen: „Sieh, ein Neger! Ich habe Angst!“ Diesen Schmerz, den Finger des Kindes, interpretierte er als Geste der kolonialistischen Verbindung zwischen Psyche und Kultur.
Psychiatrie in Blida
Frantz Fanon wurde als engagierter Verfechter von institutionellen Veränderungen wahrgenommen, wollte aber die Psychiatrie nicht an sich auflösen. Er bewegte sich innerhalb der Institution, um sie zu reformieren (Macey 2012, S. 208; vgl. Khalfa 2015). 1953 trat er die neu eingerichtete Stelle im einzigen algerischen Krankenhaus für Langzeitpatientinnen [Anm. d. Autorin: Trotz weiblicher Form sind immer alle Geschlechter mitgemeint] in Blida an. Bei 800 Patientinnen existierten dort im weitläufigen Gelände neben gefängnisartigen Gebäuden auch Villen für Beschäftigte, eine Kapelle, Sportstätten und Farmland. Fanon initiierte den Bau eines Theaters und eines Fußball-Stadions sowie einer Schule für das Krankenhauspersonal und erarbeitete ein Curriculum für die Pflege (Cherki 2006, S. 74 f.). Die Einführung von Neuroleptika an der Klinik im Jahre 1955 nahm er zuerst positiv auf. Auch Insulin- und Elektroschocks wendete er an, lehnte jedoch Lobotomien kategorisch ab (ebd., S. 73). Er kritisierte medizinische Untersuchungstafeln, deren bildhafte Erzählanreger für Algerier und Muslime nicht passend waren. Für einen kulturell angemessenen Umgang mit den Patientinnen befragte Fanon arabische Krankenpflegerinnen, eröffnete in der Klinik ein Teehaus („Café maure“), initiierte muslimische Feste und behandelte auch in seiner Privatpraxis. Fanon nahm seine Patientinnen als um die eigene Befreiung bemühte Subjekte wahr und nannte sie „boarders“ („Pensionsgäste“; ebd., S. 68). Während seines soziotherapeutischen Experiments in Blida sollten alle Beteiligten auf der Station an zweiwöchentlichen Treffen teilnehmen (Macey 2006, S. 226). In dieser „therapeutischen Neo-Gesellschaft“ wurden zudem Beschäftigungstherapie und eine Form des Psychodramas eingeführt (ebd., S. 320).
Interessiert an der Sprache des Körpers, interpretierte Fanon soziale Entfremdung immer als mit Gewalt verbundene Entfremdung. Sie ende in der Entpersönlichung von Individuen und ganzen Völkern (Cherki 2012, S. 203; vgl. Zahar 1974). In Les damnés de la terre berichtet er, ein Polizist habe so sehr unter seinem Einsatz als Folterer in Gefängnissen gelitten, dass er seine eigene Familie zu schlagen begann. Der Polizist wollte Fanon überzeugen, dass dieser ihm helfe, mit mehr Gewissensruhe zu foltern (Fanon 1961, S. 210 f.).
Während seiner drei Jahre in Blida radikalisierte Fanon sich zu einem politischen Aktivisten. Ab 1954 wuchs seine Unterstützung des algerischen Nationalismus. Zur Jahreswende 1955/56 wurde die Situation sowohl im Land als auch im Krankenhaus gefährlicher. Die Polizei fahndete in der Klinik nach versteckten Kämpferinnen und das Personal wurde dazu befragt (Cherki 2006, S. 82). Ende 1957 kündigte Fanon und wurde daraufhin des Landes verwiesen (ebd., S. 90; Macey 2012, S. 276). Zum Jahresende ging er mit seiner Familie ins Exil nach Tunis.
Im Exil
Auch in Tunis wurde Fanon als Schwarzer häufig diskriminiert. Nach Macey (2012, S. 134) „spuckten die Franzosen auf die Juden, diese auf die Araber und diese auf die Schwarzen“. Fanon war 31 Jahre alt und begann in der Klinik von Manouba zu arbeiten. In dem gut ausgestatteten Vorort-Krankenhaus gab es neben Freigängern auch viele LangzeitpatientInnen. Zusätzlich arbeitete Fanon in der neuropsychiatrischen Abteilung des „Hôpital Charles-Nicolle“, wo er Afrikas erste psychiatrische Tagesklinik einrichtete. Dort konnte er auch KämpferInnen der Befreiungsbewegung unauffälliger behandeln. Er begleitete nun nur noch Opfer – auch Pflegefälle – und keine Täter mehr. Türgriffe wurden innen an den Türen angebracht, Fenstergitter sowie Zwangsjacken entfernt und das Gebäude frisch gestrichen. Die Klinik erhielt – revolutionär für die Zeit – Betten für je vierzig Personen beiderlei Geschlechts plus sechs Kinderbetten. Die Klinik führte eine Vorlesungsreihe und neue Behandlungstechniken ein (u. a. Kunst- und Beschäftigungstherapie). Die Erfolgsquote der Abteilung war so hoch, dass in 16 Monaten weniger als ein Prozent der Behandelten nach Manouba erneut eingewiesen werden mussten (Macey, S. 319). Fanon verstand sich in erster Linie als Arzt, wurde jedoch zu einem militanten und kompromisslosen Fürsprecher für die FLN. Als solcher schrieb er von September 1957 bis April 1960 regelmäßig in der zweiwöchentlich erscheinenden politischen Zeitschrift El Moujahid.
Publikationen
Fanon schrieb laufend neben der praktischen Arbeit. Er verfasste seine Bücher, indem er sie, hin und her laufend, einer Mitarbeiterin diktierte. Der Rhythmus der Schritte sowie des Atmens floss in die Texte ein. Zugleich sprach er nahezu druckreife Sätze und Absätze. So entstanden drei Bücher und ca. 45 fachwissenschaftliche und politische Artikel (Macey, S. 583 ff.). Herausragend sind Schwarze Haut, weiße Masken (Peau noir, masques blancs¸ verfasst 1953, publiziert 1957) und Die Verdammten dieser Erde (Les damnés de la terre; 1961) mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre. In der Einleitung zu Schwarze Haut, weiße Masken schrieb Fanon: „Mensch-Sein ist ein JA. (...) Ja zum Leben. Ja zur Liebe. Ja zur Großzügigkeit. Aber Mensch-Sein ist auch ein NEIN. Nein zu Verachtung von Menschen. Nein zur Demütigung von Menschen. Nein zur Ausbeutung von Menschen. Nein zur Ermordung dessen, was zutiefst menschlich ist: Freiheit.“ (zit. nach Macey, S. XVII).
Zeitlich dazwischenliegend 1959 in Paris publiziert, war L´an V de la revolution africaine (Im fünften Jahr der algerischen Revolution) zur Information und Agitation gedacht. Im Vorwort zur dritten Ausgabe schrieb Fanon: „Wir wollen ein Algerien, das für alle offen ist, in dem jede Art von Genie gedeihen kann. Das ist, was wir wollen und wir werden es schaffen. Wir glauben nicht, dass irgendeine Gewalt, von wo auch immer, uns aufhalten kann.“ (zit. nach Macey, S. 397).
Die Verdammten dieser Erde von 1961 ist Fanons letztes zu Lebzeiten erschienenes Buch. Er konstatierte, dass eine Dekolonisation, die sich vornehme, „die Ordnung der Welt zu verändern“ nur „ein Programm absoluter Umwälzung“ und nicht das „Resultat (…) einer friedlichen Übereinkunft“ sein könne (Fanon 1957/2015, S. 29). Fanon behauptete, „dass Volksführer eins mit der Bewegung der Geschichte sind“ und „mit ihren Muskeln und ihren Hirnen die Führung des Befreiungskampfes“ auf sich nehmen würden (ebd., S. 125). Die Haut eines Kolonisierten sei „empfindlich wie eine offene Wunde“ (ebd., S. 47) und die seelische Anspannung entlade sich in muskulären Reaktionen, die bisweilen als „Hysterie“ missverstanden worden seien. Die PatientInnen entspannten sich bei ekstatischem Tanz (ebd., S. 48). Seine Biographin Alice Cherki (2006, S. 174) nennt dieses Art der psychiatrischen Körperarbeit „magische Befestigungen“ und den „Aufbau einer Kultur“. Krank mache hingegen der Kolonialkrieg. Im Fazit bat Fanon, dass „wir für uns selbst eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen.“ (Fanon 1957/2015, S. 267).
Wirkung
Frantz Fanon hat bemerkenswert erfolgreich in einem beruflichen Umfeld in Algerien sozialtherapeutisch experimentieren können, wie es zu dieser frühen Zeit in Frankreich nicht möglich gewesen wäre. Sein theoretisches Werk thematisierte unter anderem den Zusammenhang von Kolonialismus, Körperlichkeit und revolutionärer Politik. Sein Werk wird deshalb seit ca. 2010 im Kontext der globalisierungskritischen politischen Theorie und Identitätspolitik neu rezipiert (vgl. Mba 2018; Zeilig 2016; Hudis 2015; Lee 2015), während sein früher Beitrag zur Reform des psychiatrischen Handelns in den 1950er Jahren fast vergessen ist (s. aber auch Gibson & Beneduce 2017; Khalfa 2015).
Im April 2019 existierten weltweit zehn Straßen mit Fanons Namen (u.a. in Martinique sowie in Algerien) und eine Straße in Bobigny (nahe Paris). In Algerien sind zwei Kliniken nach ihm benannt.
Auszeichnungen
1963: Prix National des Lettres Algériennes (posthum).
Literatur
Alessandrini, A. C. (2005, Hg.): Frantz Fanon. Critical Perspectives. London: Routledge.
Benning, T. B. (2017): Frantz Fanon and the Decolonization of Psychiatry. In: The Canadian Journal of Native Studies 37, (2), pp. 1-10.
Cherki, A. (2006): Frantz Fanon. A Portrait. Ithaca/New York: Cornell University Press.
Fanon, F. (1961): Damnes de la terre. Paris: Maspero [Engl.: F. Fanon: The wretched of the earth. New York: Grove 1963; Dtsch.: F. Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Reinbek: Rowohlt 1969].
Fanon, F. (1959): L'an V de la révolution algérienne. Paris: Maspero.
Fanon, F. (1952): Peau Noire, Masques Blanc. Paris: De Seuil. [Engl.: F. Fanon: Black skin, white mask. London: Pluto 1986; [Dtsch.: F. Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt am Main: Syndikat 1980].
Fanon, F. (1959): L’an V de la révolution Algérienne. Paris: Maspero [Dtsch.: Aspekte der algerischen Revolution. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969].
Fanon, F. (1964): Pour la révolution Africaine. Paris: Maspero [Dtsch.: Für eine afrikanische Revolution. Politische Schriften. Frankfurt am Main: März 1972].
Fanon, F. (2011): Oeuvres. Pour la revolution africaine. Paris: Découverte.
Gibson, N. C., R. Beneduce (2017): Frantz Fanon, psychiatry and politics. London: Rowman & Littlefield International.
Gibson, N. (2011): Living Fanon. Global Perspectives. New York: Palgrave Macmillan.
Gordon, L. R. (2015): What Fanon Said. A Philosophical Introduction to His Life and Thought. New York: Fordham University Press.
Hudis, P. (2015): Frantz Fanon: philosopher of the barricades. London: Pluto Press.
Keller, R. C. (2007): Colonial Madness. Psychiatry in French North Africa. Chicago: University of Chicago Press.
Khalfa, J. (2015): Fanon and psychiatry. In: Nottingham French Studies 54, (1), pp. 52-71.
Lee, C. J. (2015): Frantz Fanon. Toward a revolutionary humanism. Ohio: University Press.
Macey, D. (2012): Frantz Fanon. A Biography. London: Verso.
Mba, C. (2018): Conceiving global culture. Frantz Fanon and the politics of identity. Acta Academica 50, (1), S. 81-103.
Nayar, P. (2013): Frantz Fanon. London: Routledge.
Rabaka, R. (2010): Forms of Fanonism. Frantz Fanon’s critical theory and the dialectics of decolonization. Lanham: Lexington.
Wolter, U. (2001): Das obskure Subjekt der Begierde. Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung. München: Unrast.
Zahar, R. (1974): Kolonialismus und Entfremdung. Zur politischen Theorie Frantz Fanons. Frankfurt am Main: EVA.
Zeilig, L. (2016): Voices of Liberation. Frantz Fanon. Chicago: Haymarket Books
Heike Oldenburg
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Zitierweise
Heike Oldenburg (2020):
Fanon, Frantz Omar.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
www.biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/278-fanon-frantz
(Stand vom:08.10.2024)