- Nachname:
- Haas-Hautval
- Vorname:
- Marthe Adélaïde
- Epoche:
- 20. Jahrhundert
- Arbeitsgebiet:
- Medizin
Psychiatrie
Sonstige - Geburtsort:
- Le Hohwald
- * 01.01.1901
- † 12.10.1988
Haas-Hautval, Marthe Adélaïde
Psychiaterin, Häftlingsärztin im Konzentrationslager
Marthe Adélaïde („Heidi“) Haas-Hautval (1906-1988) wurde als jüngstes von sieben Kindern des protestantischen Pastors Philippe Jacques Haas (1862-1935) und der Hotelierstochter Sophie Lydia Kuntz (1870-1942) in Le Hohwald (Hohwald) im Elsaß geboren (Sauquet 2000).
Da die Region zu diesem Zeitpunkt Teil des Deutschen Reiches war, besuchte sie eine deutschsprachige Grundschule. Mit der Angliederung des Gebietes an Frankreich nahm die Familie den französischen Nachnamen Hautval an (in Anlehnung an den Ortsnamen Hohwald). Nach dem Besuch des französischsprachigen Gymnasiums in Guebwiller (Gebweiler) studierte Adélaïde Hautval Medizin an der Universität Straßburg und arbeitete als Assistentin des Psychiaters Charles Pfersdorf (1876-1953). 1933 wurde sie zur Fachärztin für Psychiatrie promoviert (Haas-Hautval 1933; Klee 2013, S. 166). Sie gründete mit ihrem Bruder Philippe Emmanuel Hautval (geb. 1902) das Heim „Les Hirondelles“ („Das Schwalbennest“) für benachteiligte Kinder und war dort bis 1936 tätig. Danach arbeitete sie bis 1939 in Küssnacht in der Schweiz. Nach der Besetzung Frankreichs erhielt sie eine Anstellung in einer psychiatrischen Klinik.
Im April 1942 wurde sie auf dem Weg zu ihrer im Sterben liegenden Mutter von den Besatzern an der Demarkationslinie zwischen dem von den Deutschen besetzten und dem vom Vichy-Regime kontrollierten Landesteil aufgegriffen. Als sie während der Vernehmungen von der Benachteiligung einer jüdischen Familie erfuhr, wand sie ein, dass die Juden Menschen wie alle anderen seien und man diese in Ruhe lassen solle (Commire 2000, S. 72). Als Reaktion darauf wurde sie im lokalen Gefängnis in Bourges inhaftiert. Aus Solidarität mit jüdischen Mitgefangenen trug sie einen selbstgefertigten Judenstern aus Papier und kritisierte die ungerechtfertigte schlechtere Behandlung französischer Juden im Gefängnis. Aufgrund ihrer Proteste gegen die Behandlung jüdischer Mitgefangener entschied die Gestapo, sie könne, wenn sie die Juden zu verteidigen wünsche, gerne deren Schicksal teilen (Hautval 1946a, Commire 2000, S. 72). Daraufhin wurde sie in verschiedenen Sammellagern (Pithiviers, Beaune la Rolande, Romainville) für französische Juden interniert.
Häftlingsärztin im KZ Auschwitz
Am 24. Januar 1943 wurde sie als „Nacht- und Nebelhäftling“ (Białówna 1995, S. 174) mit Judenstern und der Armbinde „Judenfreundin“ versehen in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert (Lorska 1965/1995, S. 212). Ihre Häftlingsnummer war 31802 (Hautval 1964, S. 39). Als Ärztin war sie zunächst mit der Krankenversorgung in Auschwitz II (Birkenau) beschäftigt (Hautval 1966; Lang 2016, S. 324); später wurde sie Block 10, einem streng isolierten Versuchsblock des Stammlagers Auschwitz I zugeteilt. Block 10 stand ab April 1943 dem SS-Arzt und Gynäkologen Carl Clauberg (1898-1957) zur Verfügung, der dort Sterilisationsexperimente vornahm (Benedict & Georges 2005, S. 282; Weinberger 2009). Zeitgleich führte der SS-Standortarzt Eduard Wirths (1909-1945) dort Krebsuntersuchungen durch und nahm operative Eingriffe an weiblichen Häftlingen vor (Georges & Benedict 2006, S. 163).
Als Hautval Clauberg zugeteilt wurde, um diesem bei Zwangssterilisationen via Radiologie und Ovariektomien zu assistieren, weigerte sie sich, an diesen Versuchsreihen mitzuwirken. Dies begründete sie damit, dass niemand das Recht besäße, über das Leben und Schicksal anderer zu bestimmen (Hautval 1946b; Lorska 1965/1995, S. 212; Langbein 1980, S. 344; Haag 1998, S. 198 f.; Hautval in Klee 2013, S. 430). Manche Patienten konnte sie vor den zum Teil lebensgefährlichen Eingriffen bewahren (Salomon 1946).
Der Weisung von Eduard Wirths, sie solle auf gynäkologischem Gebiet arbeiten, stimmte sie zu (Hautval 1964, S. 40). Nach einigen Eingriffen erklärte sie jedoch, sie sei nicht damit einverstanden, in Wirths Auftrag Bildaufnahmen und Untersuchungen mit dem Kolposkop vorzunehmen und den Inhaftierten Gewebeproben am Gebärmutterhals zu entnehmen (Hautval 1948). Diese Proben sollten für eine Versuchsreihe von Wirths Bruder, dem Gynäkologen Helmut Wirths (geb. 1912), zur Früherkennung von Gebärmutterkrebs verwendet werden (vgl. Wirths 1962; Lang 2011, S. 144-166; Hübner 2016).
Ebenso weigerte sich Hautval bei Eingriffen, die der Häftlingsarzt Maximilian Samuel (1880-1943) durchführte, zu narkotisieren (Lorska 1965/1995, S. 212). Das Geheiß, bei medizinischen Experimenten des Mediziners und Anthropologen Josef Mengele (1911-1979) zu assistieren, lehnte sie ebenfalls ab. Daraufhin wurde sie nach Auschwitz II (Birkenau) zurückverlegt (Lang 2016, S. 324). Im August 1944 kam sie nach einer Typhuserkrankung in das Konzentrationslager Ravensbrück und blieb dort, bis das Lager am 30. April 1945 durch die Rote Armee befreit wurde (Langbein 1980, S. 264 f.; Aitken & Aitken 2007, S. 286 f.).
Nachkriegszeit
Nach der Befreiung des Lagers verblieb Hautval gemeinsam mit anderen Ärztinnen und Pflegerinnen in Ravensbrück, um die kranken und nicht transportfähigen Insassen zu versorgen (Hervé & Unterhinninghofen 2008, S. 280). Ende Juni 1945 kehrte sie nach Frankreich zurück. Ab 1946 schrieb sie ihre Lagererfahrungen nieder, jedoch ohne sie zu veröffentlichen (Hautval 1946a). Sie war zunächst in Besançon als Schulärztin tätig und später in einem Vorort von Paris. 1961 protestierte sie gegen Folterungen im Algerienkrieg und die polizeiliche Repression in Paris (Hervé 2003).
Hautval lebte zusammen mit ihrer Lebensgefährtin bis zu deren Tod und nahm sich selbst, als die ersten Anzeichen ihrer Parkinsonerkrankung bemerkbar wurden, am 12. Oktober 1988 im Alter von 82 Jahren das Leben. Ihre Erinnerungen an die Lagerhaft und ihre nach der Befreiung notierten Reflexionen überarbeitete sie noch 1987 und vertraute sie Freunden an. Diese wurden 1991 erstmals in französischer Sprache (Médecine et crime contre l'humanité) und 2008 in deutscher Sprache unter dem Titel Medizin gegen die Menschlichkeit veröffentlicht.
Zeitzeugin und Ehrungen
Im Dezember 1945 wurde Hautval mit dem Ritter-Orden der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet. Im April und Mai 1964 sagte sie als Zeugin beim ersten britischen „Auschwitzprozess“ gegen den Chirurgen und Häftlingsarzt Władysław Alexander Dering (1903-1965) in London aus (s. Gerichtsprotokoll in Hautval 1964, S. 37-53), der die Sterilisierungsexperimente des Lagerarztes Horst Schumann (1906-1983) an Häftlingen unterstützte. In diesem Prozess wurde an Hautvals Schicksal und dem ihrer ebenfalls widerständigen Kollegin Dorota Lorska (1913-1965) deutlich, dass die Weigerung, an medizinisch nicht indizierten Eingriffen teilzunehmen, keine gravierenden Konsequenzen nach sich zog (Hautval 1964, S. 50; Aitken & Aitken 2007, S. 268). Hautval nahm im Londoner Prozess eine Schlüsselstellung ein, da ihre Aussagen die Argumentation der Angeklagten unter Befehlsnotstand gehandelt zu haben, in höchst zweifelhaftes Licht stellte. Der Richter Sir Frederick H. Lawton (1911-2011) beschrieb Hautval später mehrmals als „perhaps one of the most impressive and courageous women who have ever given evidence in the courts of this country” (Hill 1965, S. 255).
Im April 1965 wurde sie in Israel von der Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. In ihrer Ansprache bemerkte sie, dass in erster Linie Gott und nicht die Sterblichen wie sie, diese Ehre verdienen würden. Die Auszeichnung wollte sie 1982 aus Empörung zurückgeben, als israelische Soldaten während des Libanonkonflikts bei einem Massaker an Palästinensern im Lager Sabra und Shatila im September 1982 tatenlos blieben (Hervé 2003).
Hautval begründete ihr Verhalten in den Konzentrationslagern folgendermaßen: „What I did was perfectly natural, logical and derived from a moral obligation.” (Haag 1998, S. 74). Gleichzeitig nahm sie sich bescheiden zurück und meinte: „Ich habe auch andere Seiten.“ (Langbein 1980, S. 345). 1991wurde in ihrem Geburtsort Le Hohwald ein Brunnen mit einem Gedenkstein errichtet („Fontaine Haïdi Hautval“).
Ethische Positionen
Die Ärztin Hautval war keine Widerstandskämpferin im engeren Sinne, aber sie zeigte erhebliche Zivilcourage. Die polnische Medizinerin Slavka Kleinova (geb. 1914) berichtete, dass Adélaide Hautval es gewesen sei, die sie in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in Block 10 über die Tätigkeit der SS-Ärzte aufklärte und ihr eingeschärft habe, dass jeder sich gerade im Angesicht des baldigen Todes zu seinen Mithäftlingen als Mensch zu verhalten habe. Jene ethische Gesinnung sei ihr zum „Inbegriff des pflichtbewussten Arztes“ geworden (Lang 2011, S. 149). Lorska zufolge habe Hautval in vielen Situationen nach den Geboten der Ethik und der Menschlichkeit gehandelt und sei ihr deshalb „Vorbild eines Arztes in seiner edelsten Gestalt“ gewesen (Lorska 1965/1995, S. 212). Hautvals Beispiel mache deutlich, dass es selbst in Auschwitz möglich gewesen sei, sich inhumanen Anordnungen zu widersetzen.
Hautvals authentischer Bericht Medizin gegen die Menschlichkeit ist sachlich, beinahe distanziert geschrieben und nach wie vor von großer Aktualität. Er enthält Beobachtungen über Deutschland während und unmittelbar nach Ende des Nationalsozialismus und zeigt ihr Entsetzen über geläufige Erklärungen, von alledem nichts gewusst zu haben: „Eine ganze Nation, die nur aus Nichtverantwortlichen zu bestehen scheint, angefangen bei denen, die man für das Gewissen eines Volkes hält.“ (Hautval 2008, S. 10). Marthe Adélaïde Hautvals Aussagen fördern nachdrücklich die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und den landläufigen Rechtfertigungsmustern in der Nachkriegszeit.
Auszeichnungen
1945: Ritter der Ehrenlegion.
18. Mai 1965: Yad Vashem, „Gerechte unter den Völkern“.
Literatur
Aitken R., M. Aitken (2007): Law Makers, Law Breakers and Uncommon Trials. Chicago: American Bar Association.
Benedict, S., J. Georges (2005): Nurses and the sterilization experiments of Auschwitz: a postmodernist perspective. In: Nursing Inquiry 13, (4), S. 277-288.
Białówna I. (1995): Aus der Geschichte des Reviers im Frauenlager in Birkenau [Original: 1979, S. 64-175]. In: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Die Auschwitz-Hefte. Bd. 2. Hamburg: Zweitausendeins, S. 173-185.
Breur-Hibma, A. (1983): Een verborgen herinnering. Amsterdam: Tiebosch.
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Hautval, A. (2008): Medizin gegen die Menschlichkeit. Die Weigerung einer nach Auschwitz deportierten Ärztin, an medizinischen Experimenten teilzunehmen. Berlin: Dietz.
Hervé, F. (2003): Elsass. Frauengeschichten - Frauengesichter. Berlin: travo.
Hervé, F. (2006): Zur Erinnerung an Adélaïde Hautval (1906 – 1988). In: femina politica 1, S. 107-110.
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Quellen
(1) Hautval, A. (1946a): Memoirs of Adélaïde Hautval. Yad Vashem Archive, O33 / 2250.
(2) Hautval, A. (1946b): Bericht Experimente betreffend die im Block 10 im Konzentrationslager von Auschwitz gemacht wurden. Bundesarchiv Berlin, NS 19/1583, Js 3484/55 Verf. gegen Carl Clauberg.
(3) Hautval, A. (1948): Aussagen. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 631a, Nr. 556 Verf. gegen Georg Renno.
(4) Hautval, A. (1964): Zeugenaussage Adélaïde Hautval (sowie Kommentar des Rechtsanwalts), Uris v. Dering Trial, 1964, Harry Ransom Research Library, University of Texas, Austin.
(5) Hautval, A. (1966): Testimony by Dr. Adélaïde Hautval taken on taperecorder by Madame Hollander transcribed by Génia Schweizer. Yad Vashem Archive, 03 / 2963.
(6) Salomon J. (1946): Eidesstattliche Erklärung Jeanne I. Salomon, Luxemburg, 9.10.1946. Institut für Zeitgeschichte München, NO-810.
(7) Sauquet E. (2000): Le Hohwald Liste détaillée d’individus N/M/D 1867 – 1892. URL : http://hohwald.chez.com/Nmd1867-1892.pdf [29.08.2017].
(8) Wirths H. (1962): Aussage Helmut Wirths 04/1962. Fritz-Bauer-Institut, Sammlung Auschwitz Prozesse, Verfahren 4, Js 444/59 Bd. 64.
Felicitas Söhner
Zitierweise
Felicitas Söhner (2016):
Haas-Hautval, Marthe Adélaïde.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
www.biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/267-haas-hautval-marthe-adelaide
(Stand vom:08.10.2024)