- Nachname:
- Burton
- Vorname:
- Robert
- Epoche:
- vor 1700
- Arbeitsgebiet:
- Medizin
Philosophie - Geburtsort:
- Lindley (ENG)
- * 08.02.1577
- † 25.01.1640
ZUSATZMATERIAL
Frontispiz Anatomy of Melancholy
Burton, Robert
Britischer Theologe, bedeutender Theoretiker der Melancholie.
Robert Burton (1577-1640) wurde als viertes der neun Kinder von Ralph und Dorothy Burton im englischen Lindley (Leicestershire) geboren und wuchs in Lindley Hall auf, dem Landsitz der wohlhabenden Familie. Der ältere Bruder William Burton (1575-1645) wurde Lokalhistoriker und Antiquar (vgl. zum Stammbaum: Burton 1777, S. 162). Über Burtons frühe Jahre ist wenig bekannt, er besuchte die Grundschule in Sutton Coldfield und Nuneaton und ab 1593 das Brasenose College in Oxford. Ab 1599 studierte er dort am Christ Church College und erhielt 1605 den Master of Arts und 1614 den Bachelor of Divinity. Im November 1616 wurde er Vikar der St. Thomas Kirche und zwischenzeitlich organisierte er drei Jahre lang den Markt von Oxford. 1632 erhielt er einen Amtssitz in Seagrave (Leicestershire), wo er sich jedoch selten aufhielt (Höltgen 1976).
Im Christ Church College arbeitete Burton bis zu seinem Lebensende als auch mathematisch versierter akademischer Lehrer und ab 1626 als Bibliothekar (vgl. Gowland 2006, S. 5 ff.; Kiessling 1990). Literarisch reüssierte er zunächst als Komödienschreiber (Philosophaster, 1606), doch erst sein 1621 im Alter von 44 Jahren veröffentlichtes Hauptwerk The Anatomy of Melancholy sicherte ihm bleibenden Ruhm. Er wurde in der Christ Church Cathedral bestattet, wo sein Bruder William an einer Säule eine Statue mit seinem Porträt anbringen ließ. Die Legende, Burton habe sich 1640 erhängt, ist vermutlich falsch (Geritz 2004, S. 53).
The Anatomy of Melancholy
Burtons Hauptwerk erschien zu seinen Lebzeiten in fünf, ständig erweiterten Auflagen mit zuletzt gut 1.300 Seiten. Ab der dritten Auflage war das Buch mit einem enblematischen Frontispiz versehen. 1652 erschien eine postume Ausgabe. Bis heute gilt das Buch als Meisterwerk der englischen Barockliteratur (vgl. etwa Lezard 2001). Burton schrieb unter dem Pseudonym „Democritus Junior“, dem Namen des Vorsokratikers, der nach einer antiken Legende in den pseudohippokratischen Briefen in die Arbeit mit Sektionen vertieft, fälschlicherweise für „verrückt“ („mania“) gehalten worden sei (Hippocrates 1990, S. 55-101). Burton nutze die Literatur von gut 1.000 Autoren, um seine universalistische Perspektive zu entfalten: „Denn wer ist kein Dummkopf, wer ist nicht melancholisch, verrückt, geisteskrank? Narrheit, Schwermut, Irrsinn bilden eine einzige Krankheit, und Delirium kann als ihre umfassende Bezeichnung dienen.“ (Burton 1651/1988, S. 43).
Experte aus Erfahrung
In der Vorrede gab der Theologe sich selbst als Melancholiker zu erkennen: „Was meine Person angeht, so kann ich vielleicht mit Sallusts Marius für mich in Anspruch nehmen, daß ich das gefühlt und praktiziert habe, was sich andere anlesen mußten oder nur vom Hörensagen kennen. Sie haben ihr Wissen aus Büchern, ich verdanke meins meinen melancholischen Anwandlungen selbst. Ich rede aus schmerzlicher Erfahrung, und ich möchte anderen aus Mitgefühl helfen. Wie jene tugendhafte Frau, die selbst aussätzig war, und ihr Erbteil darauf verwandte, ein Hospital für Aussätzige zu bauen, will ich die größten Schätze, die ich besitze, nämlich meine Zeit und mein Wissen, zum Nutzen aller einsetzen.“ (Burton 1651/1988, S. 23 f).
Diese Selbstdarstellung ist glaubhaft (Lund 2010, S. 141). Die bibliotherapeutische Methodik transformierte die melancholische Grübelei in Theoriebildung (vgl. Shirilan 2014; Bahun 2013; Brückner 2007, S. 225 ff.). Im Sinne des pseudoaristotelischen Verständnisses der Melancholie als Modus der gelehrten Kreativität qualifizierte Burton sich mit seiner realistisch-puritanischen Berufsethik zum „Experten aus Erfahrung“. Trotz biographischer Deutung der eigenen Schwermut als von den Eltern vernachlässigtes Kind spielte das Motiv der eigenen Betroffenheit allerdings im weiteren Gang des Buches kaum noch eine Rolle (vgl. Gowland 2001, S. 54; Miller 1997; Heusser 1987).
Formen und Ursachen der Melancholie
Den Kreis der Melancholie stellte Burton in drei Teilen vor: (1.) Symptomatik, Formen, Ursachen; (2.) Heilmethoden; (3.) religiöse Melancholie und Liebeskrankheit (vgl. Fox 1976). Grundsätzlich unterschied er eine reaktive Melancholie („disposition“, Temperament) von einer verfestigten und krankhaften Melancholie („habit“). Während für die orthodoxe Medizin des Frühbarock bei krankhaften Formen wie der „melancholia adusta" angeblich die Rückstände erhitzter schwarzer Galle im Körper den Fluss der Lebensgeister störten, akzentuierte Burton - gemäß dem frühneuzeitlichen Zeitgeist - die Persönlichkeit und das Verhalten der Betroffenen: „Die Melancholie, von der ich handele, ist dagegen gleichsam eingefleischt, ein chronisches, fortwährendes Leiden, ein unveränderliches Naturell, wie Aurelianus und andere es bezeichnen, das keinen Schwankungen mehr unterliegt.“ (Burton 1651/1988, S. 142 f.).
Burton unterschied überdies eine umgrenzte „head melancholy“ von einer den gesamten Körper befallenden Störung sowie von hypochondrischen Formen. Dämonologische Theoreme seien unentscheidbar. Primär sei die Störung des Hirns, von dort greife sie, an der Vorstellung ansetzend, auf den Verstand über. Die Ansammlung „schwarzer Galle“ im Körper unterliege stets physischen, psychischen und sozialen Bedingungen (u. a. erbliche Konstitution, Alter, Ernährung, Sünden, Enthaltsamkeit, Isolation, Erziehung, materielle Not). Als charakteristische Symptome nannte Burton Niedergeschlagenheit, sozialen Rückzug, Misstrauen sowie Wahrnehmungs- und Verstandesfehler bis hin zu Realitätsverkennungen (Burton 1651/1988, S. 310; vgl. Brückner 2007, S. 230 f.). Burtons Phänomenologie und Krankheitstheorie waren neuzeitlich. Zur Kur empfahl er Mittel aus dem gesamten Spektrum der Renaissance- und Barockmedizin (Diäten, Medikamente, Bäder, Musik, soziale Teilhabe).
Medikale Gesellschaftsutopie
Die Vorrede der Anatomy schloss mit einer eugenisch zugespitzten Utopie (vgl. Lepenies 1969, S. 30). Denn Burton hielt die gesamte Weltordnung für melancholisch. Die entsprechenden menschlichen Charaktere vom einsamen Gelehrten bis zum habgierigen Händler seien das folgerichtige Resultat der unzulänglichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Als eine mögliche Lösung sollten in einer idealen Monarchie, die am günstigsten in warmen Regionen liege, alle Personen mit einer erblichen melancholischen Konstitution von der Heirat ausgeschlossen werden (Burton 1651/1988, S. 104 ff.).
Bedeutung und Wirkung
Robert Burtons Oxforder Autorität beeinflusste zahlreiche zeitgenössische Ärzte, etwa Richard Napier (1559-1634; MacDonald 1982, S. 152 u. 189), aber auch noch einhundert Jahre später George Cheynes sensualistisches Manifest The English Malady von 1733 über die typisch „englischen" Verstimmungen, Spleens und Nervenstörungen.
The Anatomy of Melnacholy gilt als zeitloser Klassiker. Die Bodleian Library in Oxford veranstaltete 2021/2022 eine Ausstellung zum 400. Jubiläum der Erstausgabe. Zugleich gab Angus Gowland eine kritische Neuedition des Werkes heraus (Burton 1621/2021).
Literatur
Aubrey, J. (1983): Brief Lives. A modern English version edited by Richard Barber. Totowa, N.J.: Barnes & Noble.
Bahun, S. (2013): Modernism and Melancholia. Writing as Countermourning. Oxford: Oxford University Press.
Bright, T. (1586): A Treatise on Melancholy. London: Windet.
Brownlee, A. (1960): William Shakespeare and Robert Burton. Reading: Bradley and Son.
Brückner, B. (2007): Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. Bd. 1. Vom Altertum bis zur Aufklärung. Hürtgenwald: Pressler.
Burton, R. (2006): Die Anatomie der Melancholie. Aus dem Englischen übertragen, kommentiert und mit einem Nachwort von Werner von Koppenfels. 4. Auflage. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung.
Burton, R. (1989/2000): The Anatomy of Melancholy. 3 Bde. Oxford: Oxford University Press.
Burton, R. (1621/2021): The Anatomy of Melancholy. Edited by A. Gowland. Dublin: Penguin.
Burton, R. (1651/1988): Die Anatomie der Melancholie. Aus dem Englischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Horstmann. Zürich: Artemis-Verlag.
Burton, R. (1632): The Anatomy of Melancholy. What it is, With all the kinds causes, symptomes, prognostickes, & serverall cures of it. In three Partitions with their severall Sections, members and subsections, Philosophically, Medicinally, Historically, opened & cut up. By Democritus junior. With a Satyricall Preface conducing to the following discourse. The fourth Edition, corrected and augmented by the Author. Oxford: Printed by John Lichfield for Henry Cripps.
Burton, W. (1777): Proposals for Printing by Subscription. A New Edition of The Description of Leicestershire. Containing Matters of Antiquity, History, Armory and Genealogy. King’s Lynn: W. Whittingham.
Cheyne, G. (1733): The English Malady: or, A Treatise of Nervous Diseases of all Kinds, as Spleen, Vapours, Lowness of Spirits, Hypochondriacal and Hysterical Distempers. Cornhill, Bath: Strahan, Leake.
Conn, J. (1988): Robert Burton and the Anatomy of Melancholy. An Annotated Bibliography of Primary and Secondary Sources. Westport, Connecticut: Greenwood Press.
Fox, R. A. (1976): The Tangled Chain. The Structure of Disorder in ‘The Anatomy of Melancholy’. Berkeley: University of California Press.
Geritz, A. J. (2004): Robert Burton. In: A. Hager, E. S. Nelson (Hg.): Age of Milton. An Encyclopedia of Major 17th-Century British and American Authors. Westport: Greenwood, S. 53-57.
Gowland, A. (2006): The Worlds of Renaissance Melancholy. Robert Burton in Context. Cambridge: Cambridge University Press.
Gowland, A. (2012): Burton's Anatomy and the Intellectual Traditions of Melancholy. In: Babel. Littératures Plurielles 25, S. 221-257.
Gowland, A. (2012a): Consolations for Melancholy in Renaissance Humanism. In: Society and Politics, 6, (1), S. 10-38.
Gowland, A. (2012b): Melancholy, Spleen, Hypochondria. Mental diseases in Europe and England from the Sixteenth to the Eighteenth Century. In: R. Hettlage, A. Bellebaum (Hg.): Missvergnügen. Zur kulturellen Bedeutung von Betrübnis, Verdruss und schlechter Laune. Wiesbaden: Springer VS, S. 95-116.
Gowland, A. (2013): Robert Burton and The Anatomy of Melancholy. In: A. Hadfield (Hg.): The Oxford Handbook to Early Modern English Prose. Oxford: Oxford University Press.
Grant Williams, R. (2001): Disfiguring the Body of Knowledge. Anatomical Discourse and Burton’s Anatomy of Melancholy. In: English Literary History 68, (3), S. 593-613.
Heusser, M. (1987): The Gilded Pill. A Study of the Reader-Writer Relationship in Robert Burton's anatomy of melancholy. Tübingen: Stauffenburg-Verlag.
Hippocrates (1990): Pseudoepigraphic Writings. Letters, Embassy, Speech from the Altar-Decree. Edited and Translated with an Introduction by Wesley D. Smith. Studies in Ancient Medicine, Vol. 2. Leiden: Brill.
Höltgen, K. J. (1976): Robert Burton and the Rectory of Seagrave. In: The Review of English Studies. New Series 27, (106), S. 129-136.
Kazimova, U. (2012). Robert Burton’s Work “The Anatomy of Melancholy”. In: International Journal of Applied Linguistics and English Literature 1, (2), S. 219-223.
Kiessling, N. K. (1988): The Library of Robert Burton. Oxford: Oxford Bibliographical Society.
Kiessling, N. K. (1990): The legacy of Democritus Junior, Robert Burton. An exhibition to commemorate the 350th anniversary of the death of Robert Burton (1577-1640). Oxford: Bodleian Library.
Lambrecht, R. (1996): Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion. München: Fink, Wilhelm.
Lepenies, W. (1969): Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung. Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lezard, N. (2001): On the book to end all books. In: The Guardian, 18. August 2001, Saturday review, S. 11.
Lund, M. A. (2010). Melancholy, Medicine and Religion in Early Modern England: Reading 'The Anatomy of Melancholy'. Cambridge: Cambridge University Press.
Macdonald, M. (1981): Mystical Bedlam. Madness, Anxiety and Healing in Seventeenth-Century England. Cambridge Monographs on the History of Medicine. Cambridge: Cambridge University Press.
Miller, J. (1997): Plotting a cure. The reader in Robert Burton´s anatomy of melancholy. In: Taylor and Francis Journals 20, (2), S. 42-71.
Mueller, W. R. (1952): The Anatomy of Robert Burton's England. Berkeley: University of California Press.
Nicol, W. D. (1948): Robert Burton's Anatomy of Melancholy. In: Postgraduate Medical Journal 24, (270), S. 199-206.
Schiesari, J. (1992): The Gendering of Melancholia. Feminism, Psychoanalysis, and the Symbolics of Loss in Renaissance Literature. Ithaca: Cornell University Press.
Shirilan, S. (2014): Exhilarating the Spirits. Burtonian Study as a Cure for Scholarly Melancholy. In: Studies in Philology 111, (3), S. 486-520.
Simon, J. R. (1964): Robert Burton et l'Anatomie de la Mélancolie. Paris: Didier.
Smith, P. J. (1931): Bibliographia Burtoniana. A Study of Robert Burton's "The Anatomy of Melancholy”. With a Bibliography of Burton's Writings. Stanford: Stanford University Press.
Snyder, S. (1965): The Left Hand of God. Despair in Medieval and Renaissance Tradition. In: Studies in the Renaissance, 12, S. 18-59.
Wenzel, S. (1967): The Sin of Sloth. Acedia in Medieval Thought and Literature. Chapel Hill: University of North Carolina Press.
Burkhart Brückner
Foto: Walker & Boutall Ltd / Quelle: Wikimedia / Lizenz: gemeinfrei [public domain].
Zitierweise
Burkhart Brückner (2021):
Burton, Robert.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
www.biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/191-burton-robert
(Stand vom:08.10.2024)