- Nachname:
- Feuchtersleben
- Vorname:
- Ernst Maria Johann Karl Freiherr von
- Epoche:
- 19. Jahrhundert
- Arbeitsgebiet:
- Medizin
Psychiatrie
Verwaltung - Geburtsort:
- Wien (AUT)
- * 29.04.1806
- † 03.09.1849
Feuchtersleben, Ernst Maria Johann Karl Freiherr von
Österreichischer Arzt, Dichter und Schriftsteller.
Ernst von Feuchtersleben (1806-1849) stammte aus einer sächsischen Adelsfamilie und wurde in Wien geboren. Nachdem seine Mutter früh verstarb, wuchs er beim Vater auf. Die Schulbildung absolvierte er an der Wiener Theresianischen Akademie. Von 1825 bis 1834 studierte er Medizin, Philosophie, Literatur- und Kunstgeschichte und eröffnete nach bestandener Promotion eine medizinische Privatpraxis in Wien. Zu dieser Zeit bewegte er sich in Künstlerkreisen und war u. a. mit Franz Grillparzer, Friedrich Hebbel und Franz Schubert bekannt. 1836 erschienen seine für den Biedermeier-Stil typischen Gedichte.
Zur Diätetik der Seele (1838) ist Feuchterslebens erste umfassendere psychologische Schrift. Mit leicht populärwissenschaftlichem Einschlag entfaltete er eine Lehre zur Kunst der Lebensführung und betonte die geistigen und willentlichen Fähigkeiten zur Wiederherstellung körperlicher Gesundheit. 1844 wurde er Hochschullehrer für Psychiatrie an der Wiener Medizinischen Universität. Seine Vorlesungen über medizinische Psychologie veröffentlichte er im Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde (1845). In verschiedene Sprachen übersetzt, etablierte es sich zu einem Standardwerk der Psychiatrie. Ab 1845 war Feuchtersleben für knapp zwei Jahre Dekan der Medizinischen Universität, bevor er Staatssekretär im Unterrichtsministerium wurde. Er beteiligte sich an zahlreichen Reformprojekten, etwa zur Entbürokratisierung des Medizinstudiums in Österreich. Außerdem forderte er neben den naturwissenschaftlichen auch ethisch-kulturelle Grundlagen als Bestandteil der ärztlichen Ausbildung. Aus gesundheitlichen Gründen musste er 1848 seine Arbeit aufgeben. Feuchtersleben erlag am 3. September 1849 den Folgen einer schweren Krankheit.
Seine autobiographischen Schriften wurden 2002 von Hedwig Heger herausgegeben und enthalten u. a. Feuchterslebens Autobiographische Mittheilungen über die K.K. Akademie der Wissenschaften in Wien sowie Mein letzter Wille.
Psychiatrisches Wissenschaftsverständnis
Anders als Wilhelm Griesinger, der bei psychischen Störungen grundsätzlich somatische Grundstörungen vermutete, vertrat Feuchtersleben ein Modell der psychophysischen Wechselwirkung, „denn in der menschlichen Persönlichkeit ist jeder psychische Vorgang auch ein leiblicher und umgekehrt“ (1845, S. 233). Der Begriff der „Psychose“, den er von dem Mediziner Carl Cannstatt (1807-1850) übernahm, wurde von ihm systematisch in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt (Brückner 2007, S. 75 ff.; Payk 2000, S. 33), um die eigentlichen Seelenstörungen“ (wie etwa „Narrheit“, „fixer Wahn“, „Manie“, „Blödsinn“) von den leichteren „Neurosen“ abzugrenzen, die er wiederum als „Nervenstörungen“ auffasste. Den Begriff der Hypochondrie ordnete er hingegen den pädagogisch-therapeutisch behandelbaren Störungen der Persönlichkeit zu.
Einbildungskraft und Wahnsinn
Das zentrale pathogenetische Moment der Seelenstörungen sei eine mit dem Körper korrespondierende Abweichung der Einbildungskraft. Feuchtersleben (1845, S. 260 f.) schrieb: „Der Begriff einer Verwechslung der inneren Welt mit der äusseren ... ist auch schon der Begriff einer Verrückung des Verhältnisses der Seele zum Leibe, und die Erfahrung bestätigt hinlänglich, dass dem Eintritte des Wahnsinns unmittelbar eine gestörte Fantasie vorangeht; oder vielmehr, sie ist der einzige Anhaltspunkt im psychischen Leben für diejenigen Anomalien desselben, die zur Aufgabe des Arztes gehören können. In der Fantasie berühren sich, wie in einem Punctum saliens, die Wirkungen des Leibes und der Seele; nur durch sie finden sie aufeinander Statt. Das Denken ohne Bild kann nicht erkranken, das Empfinden ohne Fantasie nicht psychisch.“
Feuchterslebens Werk markiert, wie das ebenfalls 1845 erschienene Lehrbuch von Wilhelm Griesinger, den Übergang von spekulativen Ansätzen in der deutschsprachigen Psychiatrie zu systematischen Theoriegebäuden.
Literatur
Bietak, W. (1961): Feuchtersleben, Ernst Maria Johann Karl von. In: Neue Deutsche Biographie 5, S. 105-108 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn118532693.html
Brückner, B. (2007): Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. 2. Band. 19. Jahrhundert – Deutschland. Hürtgenwald: Guido Pressler.
Feuchtersleben, E. (1836): Gedichte. Stuttgart: Cotta.
Feuchtersleben, E. (1837): Beiträge zur Literatur, Kunst- und Lebenstheorie. Wien: Stöckholzer.
Feuchtersleben, E. (1838): Zur Diätetik der Seele. Wien: Carl Gerold.
Feuchtersleben, E. (1845): Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde. Als Skizze zu Vorträgen. Wien: Carl Gerold.
Feuchtersleben, E., F. Hebbel (1851, Hg.): Ernst Freiherr von Feuchtersleben’s sämtliche Werke. Wien: Carl Gerold.
Heger, H. (2002): Ernst Freiherr von Feuchtersleben. Briefe, autobiographische Schriften, Tagebuchblätter. Kritische Ausgabe. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Kreuter, A. (1996): Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Eine biographisch-bibliographisches Lexikon von den Vorläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. 1. Bd. München, New Providence, London, Paris: Saur, S. 330-332.
Krchhoff, T. (1921): Deutsche Irrenärzte. Einzelbilder ihres Lebens und Wirkens. 1. Bd. Berlin: Springer, S.218-222.
Payk, T. (2000): Psychiater. Forscher im Labyrinth der Seele. Stuttgart: Kohlhammer, S. 32-33.
Pisa, K. (198): Ernst Freiherr von Feuchtersleben: Pionier der Psychosomatik. (Literatur und Leben, N.F. Bd. 52). Wien, Köln, Weimar: Böhlau.
Julian Schwarz, Burkhart Brückner
Foto: Stöber, de: Josef Danhauser, Foto: Peter Geymayer / Quelle: Wikimedia / gemeinfrei [public domain].
Zitierweise
Julian Schwarz, Burkhart Brückner (2015):
Feuchtersleben, Ernst Maria Johann Karl Freiherr von.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
www.biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/161-feuchtersleben-ernst-maria-johann-karl-freiherr-von
(Stand vom:08.10.2024)