Baeyer, Walter Ritter von
Nachname:
Baeyer
Vorname:
Walter Ritter von
Epoche:
20. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Neurologie
Psychiatrie
Sozialpsychiatrie
Geburtsort:
München (DEU)
* 28.05.1904
† 26.06.1987
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Reformpsychiater mit anthropologischer Ausrichtung.

 

Werdegang

Walter Ritter von Baeyer (1904-1987) wurde als Sohn einer einflussreichen Gelehrtenfamilie in München geboren. Nach dem Medizinstudium ab 1922 in München, Berlin und Heidelberg - wobei er an den Drogenexperimenten von Kurt Beringer teilnahm - promovierte er 1927 Zur Psychologie verkrüppelter Kinder und Jugendlicher. 1928-1933 war er Assistent in Breslau und Heidelberg sowie Stipendiat am Genealogischen Institut der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München unter Ernst Rüdin1933 verlor der Vater seine Professur für Medizin in Heidelberg, da er jüdische Großeltern hatte, doch von Baeyer entschied sich, wie er schrieb, „in der Heimat zu bleiben“. Er versuchte zwar, sich bei Rüdin mit einer Studie über Persönlichkeitsstörungen zu habilitieren, doch nach seinen eigenen Angaben (1977, S. 17), habe seine Studie eugenische Thesen weitgehend widerlegt und die Habilitation sei durch den NS-Studentenbund verhindert worden. Von 1935 bis 1945 war von Baeyer beim Militär tätig. Während des Krieges wurde er in Polen, Frankreich und Russland eingesetzt und war ab 1941 beratender Psychiater der Wehrmacht. 1936 heiratete er Marie Wanda von Katte (1911-1997; Kretz 2004, S. 559), das Paar bekam drei Kinder. 1944 unterband der NS-Studentenbund einen weiteren Habilitationsversuch bei Oswald Bumke.

 

Von 1945 bis 1955 war von Baeyer Chefarzt der Psychiatrischen und Nervenklinik am Allgemeinen Krankenhaus in Nürnberg. 1947 habilitierte er sich in Erlangen über Fleckfieberkonfabulosen. Im gleichen Jahr erschien ein umfangreicher, zusammen mit Wilhelm Grobe verfasster Aufsatz über Psychopathologische Erfahrungen mit der Elektrokrampftherapie, die wahrscheinlich nur eine symptomatische, allerdings sehr vielseitig ansetzende Behandlungsweise" sei (1947, S. 232). 1951 behauptete er in Die moderne psychiatrische Schockbehandlung, gängige Insulin- und Elektroschockverfahren besäßen eine kausale, teils psychologisch verstehbare Wirkung bei affektiven Störungen (S. 141-152; vgl. v. Baeyer 1977, S. 22). 1955 übernahm er Kurt Schneiders Lehrstuhl in Heidelberg und entwickelte dort mit Karl Peter Kisker und Heinz Häfner erste Initiativen zur Reform der deutschen Psychiatrie (vgl. Rotzoll 2012).

 

Wegbereiter der deutschen Psychiatriereform

In Heidelberg entwarf von Baeyer eine dialogisch-psychiatrische Anthropologie (Der Begriff der Begegnung in der Psychiatrie, 1955). Seine „Zwei-Schranken-Theorie der Schizophrenie“ betonte soziale Faktoren bei der Genese und für die Behandlung. Entscheidend für die Psychiatrie seien Kategorien wie „Begegnung“, „Entfremdung“ und „Identität“: „Eine Psychiatrie, die sich nur auf statistisch Verrechenbares stützt und solche Schlüsselworte, die ganze Regionen des Menschseins aufschließen können, für entbehrliche ,Leerformelnʻ ansieht, verarmt und erstarrt. Man mag es als Mangel oder als Reiz unseres Faches auffassen, daß es seine Grundlagen nur teilweise, niemals zu Gänze in exakten, messenden und zählenden Verfahren finden kann“ (1977, S. 25).  

 

Von Baeyer war Vorsitzender des 1959 vom Deutschen Verein für private und öffentliche Fürsorge eingesetzten Aktionsausschusses zur Verbesserung der Hilfe für psychisch Kranke (Brink 2010, S. 422 f.). Seine mit Heinz Häfner und Karl-Peter Kisker 1964 publizierte Studie Psychiatrie der Verfolgten enthielt ein anthropologisches Konzept zur Begutachtung von traumatisierten Opfern des Nationalsozialismus und beeinflusste die Gesetzgebung zur Entschädigung (Beyer 2014, S. 29). Von 1950 bis 1975 gab er die Zeitschrift Der Nervenarzt mit heraus, zudem war er von 1966 bis 1971 Vorsitzender des Weltverbandes für Psychiatrie. 1970/71 kam es zu massiven Konflikten bei den Aktionen des Sozialistischen Patientenkollektivs an seiner Klinik (vgl. Pross 2016). Nach der Emeritierung 1972 gehörte er 1975 zu den Initiatoren des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. Walter Ritter von Baeyer starb 1987 in Heidelberg.

 

Auszeichnungen

1971: Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

1976: Goldene Kraepelin-Medaille, Max-Planck-Institut für Psychiatrie.

 

Literatur

Aschenbrenner, R., W. v. Baeyer (1944): Epidemisches Fleckfieber. Eine klinische Einführung. Stuttgart: Enke.

Beyer, C. (2014): „Ko-Existenz“ im „Trainingslager“  Karl Peter Kisker und die Frühphase der Hannoveraner Sozialpsychiatrie 1966-1972. In: Sozialpsychiatrische Informationen 44, (1), S. 28-32.

Brink, C. (2010): Grenzen der Anstalt: Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980. Göttingen: Wallstein.

Häfner, H. (1987): Prof. Dr. Walter Ritter von Baeyer  in memoriam. In: Nervenheilkunde 6, S. 224-225.

Kretz, H. (2004): Psychiatrie im Umbruch. In: Deutsches Ärzteblatt 101, (12), S. 559-560.

Pross, C. (2016): Wir wollten ins Verderben rennen. Die Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg. Köln: Psychiatrie-Verlag.

Rotzoll, M. (2012): Die Entstehung der „Sozialpsychiatrischen Klinik Heidelberg“ in den 1960er Jahren - Sozialpsychiatrie in Heidelberg. In: Jahrbuch des Heidelberger Geschichtsvereins 17, S. 133–148.

Von Baeyer, W. (1928) Zur Psychologie verkrüppelter Kinder und Jugendlicher. Ein Beitrag zur Kenntnis ihrer geistigen und seelischen Entwicklungsweisen. In: Zeitschrift für Kinderforschung 34, (1), S. 229-292.

Von Baeyer, W., W. Grobe (1947): Psychopathologische Erfahrungen mit der Elektrokrampfmethode. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 179, (1/2), S. 163-233.

Von Baeyer, W. (1951): Die moderne psychiatrische Schockbehandlung. Stuttgart: Thieme.

Von Baeyer, W. (1955): Der Begriff der Begegnung in der Psychiatrie. In: W. von Baeyer: Wähnen und Wahn. Ausgewählte Aufsätze. Stuttgart: Enke 1985, S. 127-140.

Von Baeyer, W., K. P. Kisker, H. Häfner (1964): Psychiatrie der Verfolgten. Berlin, Heidelberg, New York: Springer.

Von Baeyer, W. (1966): Beurteilung der geistigen Tauglichkeit. (Beiträge zur Wehrpsychiatrie, Bd. 1). Bonn: Bundesministerium der Verteidigung.

Von Baeyer, W., W. v. Baeyer-Katte (1973): Angst. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Von Baeyer, W. (1977): Walter Ritter von Baeyer. In: L. Pongratz: Psychiatrie in Selbstdarstellungen. Bern: Huber, S. 9-33.

Von Baeyer, W. (1979): Wähnen und Wahn. Ausgewählte Aufsätze. Stuttgart: Enke.

 

Samuel Thoma

Foto: Unbekannt / Copyright: Universitätsarchiv Heidelberg, UAH Pos I 04322.

Zitierweise
Samuel Thoma (2016): Baeyer, Walter Ritter von.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: www.biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/51-von-baeyer-walter-ritter
(Stand vom:19.03.2024)