Szasz, Thomas Stephen
Nachname:
Szasz
Vorname:
Thomas Stephen
Epoche:
20. Jahrhundert
21. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Psychiatrie
Psychoanalyse
Psychotherapie
Geburtsort:
Budapest
* 15.04.1920
† 08.09.2012
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US-amerikanischer Psychiater, Psychotherapeut und Psychiatriekritiker.

 

Thomas Szasz (1920-2012) kam im April 1920 als zweiter Sohn von Lily Wellisch und Julius Szász in Budapest in einer jüdischen Familie zur Welt (mit dem Vornamen Tamás István). Vor dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs floh er 1938 durch ein privilegiertes Visum in die USA. Bereits im Budapest der 1930er Jahre habe er, wie er in einer autobiographischen Skizze von 2004 berichtete, psychoanalytische Schriften von Freud und Ferenczi rezipiert und unter dem Einfluss des ungarischen Schriftstellers Frigyes Karinthy seine ethische Positionen zum Verhältnis zwischen Psychiatrie und Psychotherapie entwickelt.

 

Im Februar 1939 wurde Szasz an der University of Cincinnati immatrikuliert und erhielt – mit Aussicht auf einen Platz an der Medical School – im Mai 1941 seinen Bachelorabschluss mit Auszeichnung in Physik (Szasz 2004, S. 14). Aufgrund seiner jüdischen Herkunft habe er zahlreiche Bewerbungen benötigt, bis ihm im August 1941 die Immatrikulation am College of Medicine in Cincinnati gewährt worden sei. Im Juni 1944 schloss er das College ab, danach folgte eine psychiatrische und psychoanalytische Ausbildung in Chicago (Szasz 2004, S. 18). 1948 eröffnete er eine psychoanalytische Praxis und lehrte ab 1956 an der New York State University in Syracuse im Fach Psychiatrie. 1990 wurde er emeritiert. Szasz war verheiratet und hatte zwei Töchter. Er starb 2012 in Manlius (New York) an den Folgen eines Sturzes.

 

Schizophrenie als Mythos

Internationale Aufmerksamkeit erreichte Szasz 1961 mit dem Buch The Myth of Mental Illness. Den Begriff der psychischen Krankheit hielt er für ein pseudowissenschaftliches Produkt von Aushandlungsprozessen ohne sachliche Substanz. Der Krankheitsbegriff rationalisiere und pathologisiere vielmehr persönliche „Lebensprobleme“ und „unerwünschte Denkweisen, Gefühle und Verhalten“. Fünfzehn Jahre später griff Szasz das Thema 1976 in seinem Buch Schizophrenia wieder auf und bekräftigte abermals, dass „…die Behauptung, bestimmte Menschen hätten eine Krankheit namens Schizophrenie (andere hingegen nicht), sich nicht auf irgendeine medizinische Entdeckung, sondern nur auf medizinische Autorität stützt; daß sie mit anderen Worten nicht das Ergebnis empirischer oder wissenschaftlicher Arbeit, sondern ethischer und politischer Entscheidungen ist.“ (Szasz 1976/1982, S. 20).

 

1970 eröffnete Szasz dementsprechend seine historische Analyse The Manufacture of Madness mit dem Satz „Unsere Vorstellungen von der Geisteskrankheit entsprechen dem Hexereibegriff früherer Tage.“ (Szasz 1976/1970, S. 18). Die moderne Psychiatrie ähnele der Inquisition: „Wo eine Ideologie endet, beginnt die andere; wo religiöse Ketzerei endet, beginnt die psychiatrische Häresie; wo die Verfolgung der Hexen endet, beginnt die Verfolgung der Geisteskrankheiten“ (S. 166).

 

Sozial- und wissenschaftsgeschichtlicher Hintergrund

Szasz‘ Thesen trafen bereits seinerzeit auf heftigen Widerspruch (dazu: Shorter 2011; Clarke 2007; Schaler 2005), begründeten aber eine fundamentale Kritik der Psychiatrie in einer historischen Situation, in der institutionelle Reformen des Versorgungssystems ebenso notwendig erschienen wie Revisionen der Psychopathologie und Diagnostik. Zugleich begann Franco Basaglia (1968) mit der Öffnung von Anstalten in Italien, der britische Psychoanalytiker Ronald D. Laing (1961) veröffentlichte seine kritische Analyse The Divided Self, Michel Foucault (1961) publizierte sein erstes Hauptwerk Histoire de la Folie und Erving Goffman (1961) legte mit Asylums eine soziologische Kritik der Anstalt vor. Szasz wurde in diesen wissenschaftlichen Kontexten wahrgenommen und rezipiert. Obwohl Szasz neben David Cooper (1967) als einer der radikalsten Psychiatriekritiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten kann, lehnte er sowohl die Zuordnung seines Werks zur sogenannten „Antipsychiatrie“ ab als auch die Standpunkte der britischen Strömung um Laing und Cooper (2008a, 2008b).

 

Wissenschaftstheoretisch stützte Szasz sich – außerhalb der Psychoanalyse – auf die interaktionistische Soziologie der zweiten Chicagoer Schule und damit die von Herbert Blumer und Erwin Lemert vorgetragene Theorie der sozialen Devianz, die Thomas Scheff (1966) für die Psychiatrie störungs- und stigmatheoretisch präzisierte (vgl. Szasz 2000). Heiner Keupp begrüßte die Ergebnisse dieser Ansätze 1972 in seinem Buch über den Krankheitsmythos in der Psychopathologie mit der Hoffnung auf ein sozialwissenschaftliches Modell psychischer Störungen, das die beginnende deutsche Psychiatrie-Reform theoretisch stärken könnte. Karl-Peter Kisker (1978, S. 816 u. 820) sah bei Szasz noch „die fundiertesten Überlegungen für eine Herauslösung der Psychiatrie aus dem Bezugsrahmen der Medizin“, aber auch Ignoranz gegenüber den „brutalen Alltagserfahrungen“ innerhalb und außerhalb der Psychiatrie, zumal Szasz in Syracuse „höchst konventionell“ behandele. Zur Anwendung der Psychotherapie hat Szasz diverse Texte publiziert  (z. B. 1976a; 1957; vgl. Plessis 2001). Neuere Kommentare betonen die historische Funktion aber auch die Anachronizität seiner psychiatriekritischen Kernthesen (z. B. Shorter 2011), die er bis zuletzt vertrat. Thomas Szasz war damit einer der umstrittensten und prominentesten Vertreter seines Fachs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert

 

Rechtslibertäres Menschenbild

Wie schon 1963 in Recht, Freiheit und Psychiatrie begründete Szasz seine radikalliberalen politischen Standpunkte 1994 in Grausames Mitleid (Cruel Compassion) im Zusammanhang mit dem Thema der psychiatrischen Zwangsbehandlung. Er plädierte für die strikte Trennung von Staat und Psychiatrie, Zwangsmaßnahmen seien „Missbrauch“ staatlicher Macht, und jeder habe das Recht auf freie Selbstmedikation. Denn grundsätzlich genüge es, Menschen als produktiv oder nicht, wirtschaftliche Selbstversorger oder nicht, abhängig oder nicht zu kennzeichnen. (S. 260). Sofern damit Menschen also lediglich als individuelle Wrtschaftssubjekte angesehen werden, wertete Szasz ihre mögliche Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung als räuberisch: „Ein Individuum, das nicht produktiv werden kann oder will, muss ein Abhängiger oder ein Räuber [predator] werden oder zugrunde gehen. Insofern würden viele der Menschen, die wir psychisch krank nennen ein de facto räuberisches Verhalten" an den Tag legen (S. 261). Deshalb hindere eine unfreiwillige psychiatrische Hospitalisierung" den jeweiligen Untergebrachten daran, durch Erleiden der Folgen seiner selbstsüchtigen oder unklugen Handlungen etwas zu lernen (S. 261). Unter diesen Voraussetzungen seien die Betroffenen, wie auch Wohnungs- und Besitzlose, „sozial unerwünschte“ Opfer staatlicher Machttechniken. Das weitere Schicksal und die erwünschte soziale Position der von Szazs als „unproduktiv“ bezeichneten Personen blieben unbestimmt. Devianz solle demnach allein juristisch verfolgt werden, nicht psychiatrisch. Die Idee eines sozialstaatlichen Ausgleichs oder das Ziel soziostruktureller Reformen kamen in seinem zutiefst individualistischen, ultrakonservativen und rechtslibertären Menschenbild nicht vor.

 

Verbindungen zur Scientology Church

1969 gründete Szasz in den USA in Kooperation mit der Scientology Church die Citizens Commission on Human Rights International. Laut Westbrook (2017) arbeitete er später als psychiatrischer Sachverständiger für die Scientology-Kirche in einem Rechtsstreit gegen ein Mitglied der Organisation. Lehmann (2013, S. 24) hat die Verbundenheit von Thomas Szasz mit der Scientology Church noch für das Jahr 1978 nachgewiesen. 1994 erhielt Szazs eine Auszeichnung jener von ihm gegründeten Citizens Commission on Human Rights. 2001 nahm Szasz an einem „Russel Tribunal“ in Berlin teil, auf dem der Psychiatrie Verletzungen der Menschenrechte vorgeworfen wurden.

 

Auszeichnungen

2001: Ehrendoktorwürde der Upstate Medical University (Syracuse).

 

Literatur

Basaglia, F. (1968): Instituzione negata. Turin: Einaudi [Dtsch.: Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Ein Experiment der psychiatrischen Klinik in Görz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973].

Breeding, J. (2011): Thomas Szasz: Philosopher of Liberty. In: Journal of Humanistic Psychology 51, (1), S. 112-128.

Clarke, L. (2007): Sacred radical of psychiatry. In: Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing 14, (5), S. 446-453.

Cooper, D. (1967): Psychiatry and Anti-Psychiatry. London: Tavistock, Paladin.

Foucault, M. (1961): Histoire de la folie à l’âge classique: Folie et déraison. Paris: Plon.

Goffman, E. (1961): Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates. New York: Doubleday & Company.

Keupp, H. (1972): Der Krankheitsmythos in der Psychopathologie. München: Urban & Schwarzenberg.

Kisker, K. P. (1978): Antipsychiatrie. In: K. P. Kisker, J. E. Meyer, C. Müller, E. Strömgren (Hg.): Psychiatrie der Gegenwart. Bd. I,1. Berlin, Heidelberg: Springer, S. 811-826.

Laing, R. D. (1960): The Divided Self. An existential study on sanity and madness. London: Tavistock.

Lehmann, P. (2013): Me & Thomas Szasz. Contrary Approaches to Anti-psychiatry. In: Asylum. The Magazine for Democratic Psychiatry 20, (1), S. 24-25.

Pies, R. (1979): On Myths and Countermyths. More on Szaszian Fallacies. In: Archive of General Psychiatry 36, (2), S. 139-144.

Plessis, R. d. (2011): Social class and psychotherapy. A critical reading of Thomas Szasz’s The ethics of psychoanalysis. In: Psychology in Society 42, S. 21-34.

Schaler, J. A. (2004, Hg.): Szasz under fire. The psychiatric abolitionist faces his critics. Chicago: Open Court.

Scheff, T. (1966): Being Mentally Ill. A Sociological Theory. Chicago: Aldine.

Sedgwick, P. (1982): Psycho Politics. London: Pluto.

Sedgwick, P. (1982): Psycho Politics. Laing, Foucault, Goffman, Szasz and the Future of Mass Psychiatry. New York: Harper & Row.

Shorter, E. (2011): Still tilting at windmills: Commentary on… “The myth of mental illness". In: The Psychiatrist 35, (5), S. 183-184.

Szasz, T. (2011): The myth of mental illness: 50 years later. In: The Psychiatrist 35, (5), S. 179-182.

Szasz, T. S. (2008): Psychiatry. The Science of Lies. Syracuse: Syracuse University Press.

Szasz, T. S. (2008a): Antipsychiatry: Quackery Squared. Syracuse: Syracuse University Press.

Szasz, T. S. (2008b): Debunking Antipsychiatry: Laing, Law, and Largactil. In: Current Psychology 27, (2), S. 79-101.

Szasz, T. S. (2006): Secular humanism and “scientific psychiatry”. In: Philosophy, Ethics and Humanities in Medicine 1, (5), S. 1-5.

Szasz, T. S. (2004): An Autobiographical Sketch. In: J. A. Schaler: Szasz under fire. The psychiatric abolitionist faces his critics. Chicago: Open Court, S. 1-28.

Szasz, T. S. (2000): Second Commentary on "Aristotle's Function Argument". In: Philosophy, Psychiatry, & Psychology 7, (1), S. 3-16

Szasz, T. S. (1994): Cruel Compassion: Psychiatric Control of Society's Unwanted. New York: Syracuse University Press. [Dtsch. Grausames Mitleid. Die Aussonderung unerwünschter Menschen. Frankfurt am Main: Fischer 1997].

Szasz, T. S. (1996): Our right to drugs. The case of free market. Syracuse: Syracuse University Press.

Szasz, T. S. (1988): A social history of madness. Stories of the insane. In: Medical History 32, (4), S. 472-473.

Szasz, T. S. (1985): Ceremonical chemistry. The ritual persecution of drugs, addicts and pushers. Holmes Beach: Learning Publications. [Dtsch. Das Ritual der Drogen. Wien: Europaverlag 1978].

Szasz, T. S. (1980/1963): Recht, Freiheit und Psychiatrie. Frankfurt am Main: Fischer.

Szasz, T. S. (1976): Schizophrenia. New York: Basic Books. [Dtsch. Schizophrenie. Das heilige Symbol der Psychiatrie. Frankfurt am Main: Fischer 1982].

Szasz, T. S. (1976a): Anti-Freud. Karl Kraus’s criticism of psychoanalysis and psychiatry. Syracuse: Syracuse University Press.

Szasz, T. S. (1970): The Manufacture of Madness. A Comparative Study of the Inquisition and the Mental Health Movement. Harper & Row [Dtsch. Die Fabrikation des Wahnsinns. Frankfurt am Main: Fischer 1976].

Szasz, T. S. (1961): The myth of mental illness. Foundations of a theory of personal conduct. New York: Harper & Row [Dtsch. Geisteskrankheit. Ein moderner Mythos. Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens. Heidelberg: Carl Auer 2013].

Szasz, T. S., W. F. Knoff, M. H. Hollender (1958): The doctor-patient relationship and its historical context. American Journal of Psychiatry 115, (6), S. 522-528.

Szasz, T. S. (1957): A contribution to the psychology of schizophrenia. In:  Archives of Neurology and Psychiatry 77, (4), S. 420-436.

Vatz, R. E. (1983): Thomas Szasz. Primary values and major contentions. Buffalo: Prometheus Books.

Westbrook, D. A. (2017): “The Enemy of My Enemy Is My Friend”. Thomas Szasz, the Citizens Commission on Human Rights, and Scientology’s Anti-Psychiatric Theology. In: Nova Religio: The Journal of Alternative and Emergent Religions 20 (4), pp. 37-61.


 

Burkhart Brückner, Robin Pape

 

Foto: Jennyphotos / Quelle: Wikimedia / Lizenz: CC BY-SA 3.0 or GDFL

 

Zitierweise
Burkhart Brückner, Robin Pape (2017): Szasz, Thomas Stephen.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: www.biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/213-szasz-thomas-stephen
(Stand vom:29.03.2024)